Theo Mönch-Tegeder

Ein Lehrstück für Optimismus und Initiative
Die Nachkriegszeit in Emsbüren: 1945 bis 1949


Es ist ein seltsames, ganz und gar eigentümliches Licht, in welchem uns in diesem Jahr 1994, dem Jahr 4 der deutschen Wiedervereinigung und zugleich dem Jahr 45 seit der Gründung des Staates Bundesrepublik Deutschland, das Ende des Zweiten Weltkrieges und die unmittelbare Nachkriegszeit erscheinen. War es uns nicht ganz selbstverständlich in Fleisch und Blut übergegangen, daß die Nachkriegszeit mit der Währungsreform am 21. Juni 1948, spätestens aber mit der Verabschiedung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 zu Ende ging?

Nun sind wir dabei, umzulernen und unser eigenes Geschichtsbild zu korrigieren. Wir ahnen es mehr, als daß wir es bereits gesichert wissen, daß das wirkliche Ende der Nachkriegszeit wohl doch erst gerade eben, nämlich am 9. November 1989, eingeläutet wurde — jenem Tag, als in Berlin die Mauer fiel. Erst die Wiedervereinigung Deutschlands macht eine der schlimmsten Folgen des Zweiten Weltkrieges rückgängig. Und decouvriert sind erst jetzt die Ideologien, welche dieses 20. Jahrhundert in das größte Leid getrieben haben, das die Menschheit jemals erdulden mußte. Nationalsozialismus, Faschismus und der Kommunismus haben sich als gleichermaßen menschenverachtend wie zerstörerisch geoffenbart.

Zuende geht erst jetzt unser Denken in den Kategorien der großen Blöcke —hier die freie, demokratische Welt, dort die Diktatur des Kommunismus. Fassungs- und machtlos stehen wir vor dem Ausbruch regionaler und nationaler Kriege an vielen Plätzen der Welt. Plötzlich brechen Konflikte aus, deren Wurzeln wir längst ausgerottet glaubten. Wir haben uns geirrt, sind überrascht und von der unmenschlichen Grausamkeit dieser Konflikte schockiert. Entsetzt müssen wir erleben, wie dünn die Kruste der Humanität und Kultur ist, die sich seit 1945 über dieses, ob seiner Barbarei wie ein Vulkan brodelnde Jahrhundert gelegt hat.

Und bei uns selbst Fremdenhaß, Gewaltausbrüche, Radikalismus. Sind die bitteren Erfahrungen des Dritten Reiches vergessen? Wir spüren, daß uns die Werte, Ziele, Prinzipien und Pläne abhanden gekommen sind, nach denen wir die Zukunft nun, da eine neue Zeit anbricht, gestalten können. Und wir reagieren mit Politikverdrossenheit. Zeichen der Unsicherheit, Zeichen des Umbruchs, Zeichen des Übergangs.

Sicherlich: Für das häusliche Leben, für die Entwicklung des kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umfelds in der Gemeinde Emsbüren, ist die jüngste historische Zäsur weit weniger spürbar als seinerzeit das Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir erkennen aber mit einem Schlage, daß die Geschichte auch anders hätte verlaufen können. Emsbüren verdankt allein der Tatsache, im Nordwesten Deutschlands zu liegen, sein glückliches Los, daß es sich in Demokratie und sozialer Marktwirtschaft zu einer schmucken Gemeinde mit einem breiten Wohlstand entwickeln durfte.
Hinzu kommen viele andere Phänomene, die in einer bloßen Schilderung der lokalen Geschehnisse keinen angemessenen Platz finden können: Die kommunale Ordnung mit einem Bürgermeister und einem Gemeindedirektor an der Spitze — ein Erbe der Nachkriegszeit, ein Erbe der englischen Besatzung. Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, auch wenn wir sie langehin als unvollkommen empfunden haben mögen: Nun, da wir sie mit der Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit der ehemaligen DDR vergleichen können, ermessen wir, was uns die britische Besatzungsmacht mit ihrer Politik der Entnazifizierung abgenommen hat.

Diese starken Verbindungslinien in die Gegenwart seien zumindest angedeutet, wenn hier von der unmittelbaren Nachkriegszeit in Emsbüren, also der Zeit von 1945 bis 1949, als einer geschichtlichen Periode die Rede sein soll. Es ist zwar nur ein kurzer Zeitraum, aber vielleicht einer der wichtigsten für das moderne Emsbüren, wie es sich uns heute präsentiert. Trotz aller Erschütterungen, die wir derzeit durch- und erleben: Das Fundament, auf dem unser Gemeinwesen ruht, wurde in dieser Zeit gegossen. Die Demokratie als Antwort auf die Diktatur; der Rechtsstaat als Gegenmodell zu Hitlers Unrechtsstaat; Freiheit und Chancengleichheit statt arischen Größenwahns, Unterdrückung und Vernichtung; Versöhnung mit den Völkern statt Weltkrieg, soziale Marktwirtschaft statt unsozialer Kriegswirtschaft.

Jedoch: Obwohl diese vier Jahre nach dem totalen Zusammenbruch für unsere eigene Entwicklung so bedeutsam waren, erscheinen sie uns bemerkenswert unscharf. Zumindestens empfinde ich, Jahrgang 1953, es so. In den Erzählungen, die ich im Elternhaus und meiner Emsbürener Umwelt aufgenommen habe, spielte die Zeit 45/49 kaum eine Rolle. Sie wurde — so erkläre ich es mir —sozusagen im Niemandsland des historischen Bewußtseins angesiedelt: Weder Geschichte, dazu war sie noch zu nah, noch Gegenwart, dazu war sie von der neuen Wirklichkeit schon zu weit entfernt. Es mag auch damit zusammenhängen, daß man sich an Not und Unsicherheit nur ungern erinnert, und nicht zuletzt mit dem Phänomen, welches der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich als die damalige „Unfähigkeit zu trauern" zu beschreiben versucht hat.

Was also ist in Emsbüren geschehen in dieser dramatischen Zeit? Zunächst ein kurzer Blick auf das historische Umfeld: Am 6. Juni 1944, dem berühmten „d-day", beginnen amerikanische und englische Truppen bei Dünkirchen in der Normandie die Invasion von der europäischen Westseite her. Eineinhalb Monate später, am 20. Juli 1944, mißglückte das Attentat des Oberst Graf Schenk von Stauffenberg auf Hitler, also zu einem Zeitpunkt, zu dem die Alliierten bereits von allen Seiten auf Deutschland zumarschierten. Im September versuchte Kriegsherr Hitler einen letzten verzweifelten militärischen Befreiungsschlag, indem er London und Südengland mit V-2-Raketen beschoß. Anfang März 1945 standen die alliierten Truppen an der deutsch-niederländischen Grenze: Im Süden die 9. US-Armee, die später Münster einnimmt. Daran schließt sich nördlich die 2. britische Armee an; sie dringt — in grober Richtung — durch die Grafschaft Bentheim in das Gebiet des Kreises Lingen ein. Im nördlichen Emsland rückt das 2. kanadische Korps westwärts sowie die 1. polnische Panzerdivision nordwärts vor.

Schon seit dem Frühjahr 1944 überfliegen starke feindliche Bomberverbände Emsbüren — bei Tag und Nacht. Die Bomber legen zum Beispiel die Erdölraffinerie in Salzbergen und einen Teil der Gemeinde in Schutt und Asche. Auch wenn Emsbüren selbst von den Bombenangriffen verschont bleibt, wird doch das Leben von der Furcht vor den Flugzeugen bestimmt: Immer häufiger heulen die Sirenen zum Vollalarm. Da heißt es: Schutz suchen. Schulen, Geschäfte und Betriebe müssen während der Zeit schließen.

Ab dem 21. Oktober 1944 fällt der Schulunterricht bis auf weiteres vollständig aus. Alle Klassenräume werden mit Schanzarbeitern aus den Kreisen Lingen und Bersenbrück belegt; später werden auch Holländer dienstverpflichtet. Sie müssen in der Umgebung von Emsbüren, zum Beispiel auf dem Hörtel, Gefechtsstellungen ausheben. Nach den Weihnachtsferien, ab dem 10. Januar 1945, findet der Unterricht im Pfarrsaal statt, berichtet die Schulchronik; aber sehr viele Stunden müssen infolge Fliegeralarms ausfallen.

Immer näher rückt die Westfront. Befehlsgemäß werden im März 1945 an den Ausgängen von Emsbüren durch die Männer des Volkssturms Panzersperren gebaut. In den Tagen vom 31. März bis zum 4. April ziehen deutsche Truppen (Infanterie, motorisierte und bespannte Geschütze, Baggage) in östliche Richtung durch Emsbüren, einige sind ohne Disziplin. Beim Friedhof und rechts der Straße nach Schüttorf auf der Höhe zwischen Klefing und Rickling geht je eine deutsche Batterie in Feuerstellung. Sie schießt sich auch ein, wird aber in der Frühe des 5. April zurückgezogen. In den frühen Morgenstunden des 7. April, kurz nach Mitternacht, rücken die englischen Truppen in Emsbüren ein und besetzen kampflos das Dorf.

Maria Mönch-Tegeder hat in einem eindrucksvollen Bericht beschrieben, wie sie diese letzten Kriegstage auf dem elterlichen Hof in Mehringen erlebt hat. Er sei wegen seiner Authentizität als Zeitzeugnis hier wiedergegeben:
„Die Kartage und der Ostersonntag 1945 verliefen verhältnismäßig ruhig. Wohl sahen wir beim Kirchgang in Emsbüren Truppenteile, die geordnet oder auch ungeordnet auf der Flucht waren. Am Ostermontag wurde bekannt, daß die Brennerei Kuipers ihren Schnapsvorrat verteilen müsse. Man fürchtete, daß sich sonst deutsche und auch fremde Soldaten darüber hermachten und es zu Ausschreitungen kommen könnte. Jede Familie durfte sich zwei Flaschen füllen lassen. Die Flaschen mußten mitgebracht werden. Sofort nach dem Mittagessen machten meine Schwester Anny und ich uns auf den Weg. Ein wenig Angst bekamen wir, als wir kurz hinter dem Bahnübergang an der rechten Waldseite eine Kanone stehen sahen. Der Andrang bei Kuipers war gewaltig
groß. Die Leute achteten nicht auf Kanonendonner und Flieger. Sie wollten sich die Zuteilung nicht entgehen lassen.

Am späten Nachmittag erschienen Soldaten einer Sanitätskolonne auf unserem Hof in Mehringen. Sie wollten das Haus besichtigen und meldeten uns, hier würde ein Feldlazarett eingerichtet. Mama war gar nicht damit einverstanden. Aber das nahmen die Soldaten nicht zur Kenntnis. Ich versuchte, Mama damit zu beruhigen, wir wären dann doch durch das Rote Kreuz geschützt. Papa hielt das auch für günstig. Einige Stunden vergingen. Plötzlich kam ein ganzer Schwarm Soldaten über die Diele, und sie erklärten uns, sie müßten hier ihr Quartier aufschlagen. „Hier hat sich schon eine Sanitätskolonne angemeldet", sagten wir. „Das ist längst überholt. Die Front rückt näher", entgegneten sie. „Wir sind von der Artillerie und müssen Kanonen aufbauen und schießen, damit der Feind aufgehalten wird."

Sie verlangten ein paar Räume und Stroh. Auf dem Hof hatten sie eine Gulaschkanone stehen. Während der ganzen Nacht war es ein Kommen und Gehen. Ich weiß nicht mehr, wann sie abzogen. Geschossen haben sie jedenfalls nicht. Auf dem Hof ließen sie die Gulaschkanone mit vergammeltem Fleisch und eine Kanone ohne Munition zurück.

Der Artillerie folgte eine SS-Fallschirrntruppe mit einem fanatischen Major. Sie belegten die beiden Stuben als Befehlsstelle, fünf Schlafzimmer, die große Küche und das Heuerhaus auf dem Hof. In einem der Schlafzimmer richteten sie eine Funkstelle ein und eine weitere in der kleinen Küche. Ihre Aufgabe bestand darin, die versprengten, zurückflutenden Truppen wieder neu zu formieren‚ um das Vorrücken der feindlichen Front aufzuhalten, und die Emsbrücke (beim Gasthof Meyer) für den Rückzug zu sichern. Auch verlassenes Heeresgut wurde abtransportiert, zum Beispiel die Gulaschkanone und der Proviantwagen, die Hinterlassenschaft der Artillerie. Das große Geschütz blieb stehen. Es erhielt eine neue Besatzung, aber keine Granaten. Als die
Engländer in Nordhorn über den Ems-Vechte-Kanal rückten, sollte geschossen werden. Die Funker, die mit ihren Geräten bei uns in der kleinen Küche saßen, mußten vom Flugplatz Wesel (bei Bramsche) Granaten anfordern. Aber die konnten nicht mehr befördert werden. Die Engländer hatten östlich der Ems bereits die B 70 erobert, auch Listrup und Helschen waren schon in ihren Händen.

Nachts war immer Betrieb. Die Soldaten, die nicht in Alarmbereitschaft waren, ruhten sich auf Stroh in den Schlafzimmern aus. Betten hatten nur einige Offiziere. In der großen Küche lagen Mann an Mann kampfbereit mit Gewehrund Munition. Wegen der Verdunkelung durfte kaum ein Licht brennen. Die Fenster waren durch Rollos verdunkelt. Laufend waren in der Nacht Patrouillen unterwegs. Sie schwärzten sich erst die Gesichter, damit sie in der Dunkelheit nicht auffielen. Ihre Aufgabe war es, auszukundschaften, wie weit der Feind schon vorgerückt war. Einmal betraten einige Soldaten ein Haus im Mehringer Wald, das schon von Engländern besetzt war. Die ersten wurden gefangen genommen, die anderen konnten flüchten und kamen ganz verstört zurück.

Von Tag zu Tag Verschlimmerte sich die Lage. Die feindlichen Tiefflieger sausten ununterbrochen, und der Beschuß wurde immer stärker. In der Nacht vom 6. zum 7. April gingen die Engländer zum Angriff über. Die Funker hatten uns Verraten, daß die Emsbrücke gesprengt werden sollte. Der Major ließ melden, wir möchten Türen und Fenster öffnen und eventuell Glas und Porzellan sicherstellen. Es wurde eine schreckliche Nacht. Flieger kreisten und Granaten heulten in Richtung Emsbrücke.
Der Major verließ mit seiner Truppe am späten Abend das Haus. Er bedankte sich bei uns für die gute Aufnahme und Verpflegung. „Hoffentlich nehmen Sie uns auch wieder auf, wenn wir als Werwölfe wiederkommen" — damit verabschiedete er sich. Die Soldaten ließen Waffen, Munition, Karten und einen Fotoapparat zurück. Nur die Funkgeräte nahmen sie mit. Die Karten sollten wir verbrennen.

Temmen Bernd (Mitarbeiter auf dem Hof) lief zwischendurch mit einem weißen Handtuch herum und hielt Ausschau, ob die Engländer noch nicht anrückten. Wir mahnten ihn zur Vorsicht. Die Funker hatten uns erzählt, daß ihnen im Raum Gronau-Ochtrup die Leute mit weißen Tüchern zugewunken hätten. Dieses Zeichen der Kapitulation hätte böse Folgen auslösen können. Deshalb hätten sie gewarnt: „Schnell verschwinden! Wir sind noch Deutsche!"

Wir haben den ganzen Vormittag gewartet. Erst in der Mittagszeit kamen englische Soldaten durch die Windfangtür in die große Küche. Meine Schwester Anny und ich stellten uns ihren Fragen. Wir verstanden ihre Fragen und Anordnungen ganz gut, teils konnten wir sie in Englisch verstehen, teils halfen wir uns mit einem Englisch—Deutsch-Wörterbuch, das die Soldaten bei sich hatten.

Ihre Hauptfragen: „Sind noch deutsche Soldaten hier?" — „Wir können es nicht mit letzter Sicherheit sagen." Es wäre durchaus möglich gewesen, daß sich einige versteckt hätten. „Wann sind die Deutschen abgezogen?" — „ In der Nacht." „Wohin? " — „Das wissen wir nicht."

Dann begann die Hausdurchsuchung. Wir mußten vorangehen und alle Türen öffnen. Sie fürchteten wohl, daß sich noch irgendwo Schützen verborgen hielten. Waffen und Munition hatten sie genug hinterlassen.

Die Engländer hatten auch Pistolen in der Hand, die bestimmt geladen waren. Aber bedroht wurden wir damit nicht. Wie ängstlich und vorsichtig sie waren, zeigte sich in der Futterküche. Dort mußten wir sogar vom Futterkessel und Waschkessel die Deckel abheben. Zunächst hatten die Kerle einen militärischen Kommandoton. Die Stimmung schlug um, als sie im Keller die Eierkörbe entdeckten. „Plenty eggs! " riefen sie verwundert aus. Und gleich kam die Frage, ob sie wohl Eier bekommen könnten. Wir gaben sie ihnen gerne. Nachdem die Durchsuchung beendet war, wollten sie auf unserem Herd Spiegeleier braten. Wir boten ihnen Pfanne und Fett und unsere Hilfe an. Fett brauchten sie nicht, das hatten sie selbst genug. Aber die große Pfanne gefiel ihnen, und das Braten besorgten sie selbst. Während einer am Herd stand und
eine Pfanne nach der anderen mit Eiern füllte, bewachten die anderen Haus und Hof und kamen dann abwechselnd zum Spiegeleieressen.

Hinten in der Gartenanlage warfen sie einen Graben aus, in dem eine Wache in Deckung ging. Noch immer hörte man Schüsse und Kanonendonner. Östlich der Ems wurde noch gekämpft. Allmählich lockerte sich die Distanz. Für die Eier wollten sie sich erkenntlich zeigen. Wir durften unsere Wünsche äußern. Wir baten um Kerzen, denn es gab keinen Strom mehr. Auch Tee konnten wir gut gebrauchen. Sie gaben uns diese Dinge nicht persönlich in die Hand. Das wäre Anbiederung gewesen. Sie legten die Sachen draußen vor der Haustür auf den Gartentisch, und zwar viel mehr, als wir erwartet hatten. Außerdem hatten wir noch ein Anliegen. lrn Haus und in Schuppen und Scheune lagerten Munition und Panzerfäuste. Wir konnten mit diesen brisanten Sachen nicht umgehen. Die Fallschirmjäger hatten uns Verraten, wo die Panzerfäuste versteckt waren. Sie wollten sie, wenn sie als „Werwölfe " zurückkämen, wieder als Waffen benutzen. Die Engländer haben das alles weggeräumt.

Papa ging es nach der schlaflosen Nacht der Brückensprengung gar nicht gut. Sein Zustand verschlimmerte sich. Ein Arzt wäre dringend notwendig gewesen. Telefonisch war Dr. Thedieck nicht zu erreichen. Wegen der Ausgangssperre konnten wir nicht nach Emsbüren gehen. Nur am Weißen Sonntag war die Sperre von 9 bis 10 Uhr aufgehoben. Die Geistlichen hatten es bewirkt, daß dann in der Kirche eine Messe zelebriert wurde. Sie durften auch die Gläubigen davon in Kenntnis setzen. Die Wege wurden vorgeschrieben. Nicht alle waren minenfrei...

Am 12. April starb unser Vater... Welche Schwierigkeiten ein Sterbefall verursachte, kann man sich nicht vorstellen. Es gab keine Telefonverbindung, keine Postzustellung, keinen Sarg, keine Totenwäsche, keine Trauerkleidung und keine Bewirtung nach der Beerdigung in Emsbüren. Forsting in Leschede wollte wohl einen Sarg machen, wenn wir ihm Eichenbretter bringen würden und zwei Männer als Hilfe zum Hobeln schickten. Mit Maschinen konnte er nicht arbeiten, weil die Stromversorgung noch nicht wieder in Ordnung war. "

So weit der Erlebnisbericht von Maria Mönch—Tegeder. Am 7. April 1945 war also in Emsbüren der Zweite Weltkrieg zu Ende. Es ist sinnvoll, auch hier wiederum den größeren Rahmen in den Blick zu nehmen: Am 6. April hatte die 9. amerikanische Armee Hamm erobert, am 9. kapitulier-
te Königsberg. Am 10. stießen die Amerikaner bis nach Hannover vor. Am 25. April wurde der Eroberungsring um Berlin geschlossen, fünf Tage später beging Adolf Hitler Selbstmord. Am 7. Mai unterzeichnete Generaloberst J odl die Gesamtkapitulation der Wehrmacht, am 10. Mai wiederholte sie Generalfeldmarschall Keitel im sowjetischen Hauptquartier Karlshorst bei Berlin.

Zum ersten Bürgermeister nach dem Krieg ernannten die Engländer schon einen Tag nach dem Einmarsch Heinrich van Lengerich, der die elterliche Firma Bernard van Lengerich kaufmännisch leitete. Stellvertretender Bürgermeister wurde Bernhard Fangmeyer. In einem Bericht über seine Amtszeit schreibt van Lengerich: „Die Ernennung wurde mit einem englischen Funkwagen bekanntgegeben, wobei durch mich die ersten Gesetze der Militärregierung vorgelesen werden mußten. Sämtliche Banken und die Post wurden geschlossen und alle Bank- beziehungsweise Postguthaben gesperrt. Zu Polizisten wurden Hermann Leveling und Herr Kock aus Emsbüren ernannt, deren erste Aufgabe es war, Munition, Gewehre, Foto-Apparate und Feldstecher einzusammeln. Bäckereien, Schlachtereien und Lebensmittelgeschäfte erhielten Anweisung, sofort wieder die Tätigkeit beziehungsweise den Verkauf aufzunehmen. Für Männer bestand in den ersten Tagen völliges Ausgehverbot, was sich für die Landwirtschaft als sehr nachteilig erwies."
Die Besatzungstruppen wechselten mehrere Male. Am 12. April zogen die ersten englischen Truppen ab; ihnen folgten am 15. April andere Kontingente, die bis zum 28. blieben. Vom 1. Juli bis zum 12. September und dann noch einmal vom 16. September 1945 bis zum 29. Juli 1947 standen polnische Besatzungstruppen in Emsbüren. Für sie mußte eine Anzahl von Häusern im Dorf geräumt werden: August Hoyer, Theodor Egbring, Bernhard Tiemann‚ Heinrich Kamphues, die Volksschule, die Landwirtschaftsschule und Theo Varenau. Heinrich van Lengerich notiert: „Es wurde von mir alles versucht, besonders die Privathäuser von der totalen Räumung zu Verschonen, jedoch waren alle Bemühungen erfolglos."

Diese Zeit der polnischen Besatzung ist in schlimmer Erinnerung geblieben. Während des Krieges waren auf Vielen Höfen polnische Kriegsgefangene für die Feldarbeit eingesetzt worden. Diese kannten die Verhältnisse in den Häusern sehr gut und nutzten ihr Wissen nach Kriegsende für Diebstähle und Raubüberfälle. Sie sollen es auch an die Besatzer weitergegeben haben. „ Zügellose Banden stehlen und plündern berichtet die Emsbürener Schulchronik und zählt auf: Staelberg in Ahlde, Robel in Mehringen, Einhaus in Listrup, Fehren und Timmer in Bernte. Bei Robel zum Beispiel kamen dabei zwei Angehörige ums Leben.

Gerhard Hölscher aus Helschen, der spätere Landrat, berichtet folgendes Von einem solchen Überfall: „Es war im Frühjahr 1947. Da stiegen um Mitternacht vier Polen in unser Haus ein. Sie stiegen durch ein zerschlagenes Fenster ein, dort, wo bisher der gefangene Pole sein Zimmer hatte. Ich schlief mit meiner Familie oben, während mein Schwiegervater und zwei Mädchen im
Erdgeschoß ihre Bleibe hatten. Als ich durch den Krach unten erwachte, machte ich die Tür zur Treppe auf, und siehe da: Ein Pole richtete seine Maschinenpistole auf mich. Ich schlug die Tür zu und konnte durch eine andere
zum Boden des Wirtschaftsgebäudes entkommen. Selbst machtlos, mußte ich Hilfe von Nachbarn holen. Da vom Wirtschaftsgebäude und den Stallungen mehrere Türen nach draußen gingen, machte ich die zunächst gelegene Tür auf. Da stand aber ein Pole Schmiere. Ich machte Kehrtwendung um 180 Grad zu einer anderen Tür. Durch diese konnte ich ungesehen entkommen. Ich weckte den nächstgelegenen Nachbarn, der sofort mobil machen sollte und auch wollte. Doch der Hund fing dort heftig an zu bellen; auch brannte Licht. Das hatten die Einbrecher wohl zu hören bekommen, daß dort etwas nicht stimmte. Ich lief schnell wieder nach Haus, um zu spähen oder zu wehren. Doch unterwegs begegneten mir im Mondlicht die vier. Sie liefen ganz hastig. Ich sprang zur Seite und trommelte gut hörbar hinterher. Als die Nachbarn bald kamen, war der „ Spuk" schon verschwunden. Wie ich erfuhr, waren sie aus einem Lager bei Rheine gekommen. Meinem Schwiegervater Heinrich Fehring hatten die Einbrecher mit einem Messer heftig in die Schultergegend gestochen. Er mußte ärztliche Hilfe haben und für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Erreicht haben die Einbrecher nichts, da sie gestört wurden...

Da wir mit weiteren Überfällen rechnen mußten, haben wir mit Nachbarn längere Zeit nachts Kontrollen durchgeführt. Die in Emsbüren im Saale Kamphues untergebrachten Polen versuchten, Jagdgewehre zu ergattern, um vor allem Rehe schießen zu können. Der Rehbestand wurde derzeit stark reduziert. Kaplan G. erzählte mir damals: Ich fuhr mit meinem Fahrrad durch eine Bauerschaft. Mir begegnete ein Pole, der sagte: Du Pastor gehen zu dem Bauern, der hat Gewehr. Dies holen und mir geben. Ich hingehe, kriege nicht Gewehr. Der Kaplan stieg aufs Fahrrad und haute ab.

Ein B-Soldat (kriegsuntauglicher, ehemaliger Soldat) und ich fuhren mit dem Pferdewagen zum Wald, um Holz zu holen. Da sahen wir an einem Baum ein Jagdgewehr liegen. Wir holten es und sahen, daß die Patronenlager aufgeplatzt waren. Da war wohl ein Schuß rückwärts herausgegangen. Ein Pole hatte sich mit dem Gewehr einige Finger abgeschossen. Er ging mit verbundener Hand einmal bei uns vorbei."

56 Emsbürener Männer, die als Soldaten in der Wehrmacht dienen mußten, kehrten aus dem Krieg nicht wieder heim; gefallen oder vermißt. Gleichwohl herrschte große Erleichterung, daß es zu keinerlei Zwischenfällen kam, als die Engländer in den Ort einrückten. Kein Haus wurde beschädigt, es gab auch keine Verluste unter der Bevölkerung. Doch dann geschah ein schreckliches Ereignis:

Am 28. April waren englische Soldaten dabei, Munition und Benzinkanister zu verladen, die an der Straßenecke bei Barkeling gelagert waren. (Das Haus steht nicht mehr; es befand sich neben dem Anwesen Tönnis-Dankelmann an der Lange Straße, dort, wo nun die Ortsumgehungsstraße abzweigt.) Durch unsachgemäße Handhabung detonierte eine Mine, die wiederum einen Stapel Munition zündete. Es gab eine Riesenexplosion. Das Barkelingsche Anwesen wurde völlig zerstört, ebenso der Nordteil des Hauses Anton Fröhlich. Die Nachbarhäuser wurden stark beschädigt, Dächer abgedeckt, Fenster und Türen zertrürnmert, Wände eingedrückt. Selbst in der Papenstraße wurden noch Fenster eingedrückt. Mehrere britische Soldaten fanden den Tod. Der Bäckermeister Anton Fröhlich wurde so schwer verletzt. daß er einige Tage später an den Folgen starb. „Nur dem tatkräftigen Eingreifen der Gesamtbevölkerung und besonders der Feuerwehr sowie der günstigen Windrichtung war es zu verdanken, daß ein Brand verhindert wurde", notiert Bürgermeister Heinrich van Lengerich. Für die Opfer der Explosion wurde in der Kirche eine Tellerkollekte abgehalten, die den Betrag von 24.000 Reichsmark erbrachte. Die Schulchronik hält für den Herbst 1945 fest: „Die infolge der Explosion zerstörten und beschädigten Häuser werden wieder aufgebaut und instandgesetzt. Alle helfen mit."

Am 29. Juli 1947 rückte die polnische Besatzungstruppe ab. Die beschlagnahmten Wohnungen, so berichtet die Schulchronik, seien geräumt. Am 14. August konnte der Unterricht wieder in den Klassenräumen der Volksschule stattfinden. „Eine gründliche Reinigung und Desinfizierung ging voraus. Sämtliche Maler des Dorfes haben eine Woche gearbeitet, die Räume wieder in- standzusetzen. Ölfarbe ist für Geld nicht zu kaufen. Eine Specksammlung mußte abgehalten werden, das notwendige Öl zu kaufen. Am Morgen des 14. August wurden die Klassenräume durch den Pfarrer eingesegnet. Am 30. 8. wurden die beschlagnahmten Wohnhäuser freigegeben."

Sorge herrschte nach wie vor um die kriegsgefangenen Angehörigen. „Kriegsgefangene Soldaten kehren heim!" berichtet die Schulchronik in der Mitte des Jahres 1945. „Alle Einwohner des Dorfes nehmen Anteil an der Freude der Heimkehrer und deren Angehörigen. Wir wollen hoffen, daß bald der letzte gefangene Soldat in die Heimat zurückkehren möge. Im Kirchspiel Emsbüren fehlen noch 300 Soldaten, im Dorf allein etwa 90." Natürlich versuchten die Angehörigen, wo es möglich war, ihre gefangenen Söhne freizubekommen. Exemplarisch mag hierfür der Antrag des Schreincrs Bernhard Tönnis an die englische Militärverwaltung in Lingen stehen: „Hiermit stelle ich den erg. Antrag, meinen Sohn Uffz. Hans Tönnis, 870 Deutsche Arbeitskompanie, Rheinberg/Rheinland, besch. beim Straßenbau, aus der britischen Kriegsgefangenschaft entlassen und für meinen Bauschreinerei-Betrieb freigeben zu wollen. Ich bin Bauschreiner und ca. 65 Jahre alt. Durch ein steifes Bein bin ich körperlich behindert und muß wegen dieser Beschwerde zeitweise bei der Arbeit aussetzen. Ich bin mit Aufträgen für die Instandsetzung von bombengeschädigten landwirtschaftlichen Wirtschaftsgebäuden sowie Notwohnungen überlastet. Mit den vorhandenen wenigen Arbeitskräften kann ich die Arbeit nicht mehr bewältigen. Mein Sohn Hans ist Bau-Schreinermeister und fehlt mir für die Leitung des Betriebs dringend."

Die erwähnten Notwohnungen, teils Baracken und Hütten, waren größtenteils für den einsetzenden Flüchtlingsstrom bestimmt, deren Unterbringung sich — so Bürgermeister Heinrich van Lengerich — als sehr schwierig erwies. Schon die Zahlen belegen das Ausmaß: Vor dem Krieg betrug die Einwohnerzahl in Emsbüren laut van Lengerich 720. Hinzu kamen nun (23. September 1946) 137 Flüchtlinge sowie 60 Evakuierte und B-Soldaten.

Die Schulchronik vermerkt für 1946: „Emsbüren und Berge haben rund 500 Flüchtlinge aufzunehmen. Sie kommen aus der russischen Zone: Ostpreußen, Schlesien, Glatz. Den armen Menschen ist ihre ganze Habe genommen. Sie besitzen nur das, was sie mitschleppten. Nun freuen sie sich, daß sie wenigstens ein Dach über dem Kopf und satt zu essen haben. Viele der Flüchtlingskinder, die jetzt hier die Schule besuchen, haben seit 20 Monaten keinen Unterricht
mehr gehabt. Aber sie zeigen durchweg guten Willen."

Schaut man in die Tageszeitungen der damaligen Zeit, so erhält man noch heute einen lebendigen Eindruck vom Lebensgefühl dieser Flüchtlinge:
  • 8. Januar 1946: Dentist, Gr. 1,80, im Osten alles verloren, sucht Anzug, Hut, Schuhe u. Wäsche. Übernehme dafür bis zum Wortausgleich die Technik eines Kollegen. Dentist Giese, Emsbüren.
  • 15. Januar 1946: Wer kann mir die Anschrift von Lehrerin Ida Lohmann, zuletzt in Gr. Walden (OS) aufgeben? Heinrich Rduch, Leschede.
  • 26. Juni 1946: 16 O00 Neubürger im Kreis Lingen. Auf 100 Einwohner kommen 60 Neubürger. Und jede Menge Anzeigen unter der Rubrik: Gesucht wird... Gemeint sind vermißte Angehörige, nicht Kaufgesuche. Etliche Namen dieser Flüchtlinge sind noch heute in Emsbüren zu finden; sie haben hier eine neue Heimat gefunden. Viele andere sind wieder vergangen... gestorben, weitergezogen.
Studiert man die Kreistagsprotokolle der damaligen Zeit, so stellt man leicht fest, daß kein Problem die Politik so sehr beschäftigte wie die Flüchtlings— und Wohnungsnot. Dies geht bis in das Jahr 1949 hinein. Am 1. Juni 1949 bringt der Emsbürener Kreistagsabgeordnete Hermann Leveling einen bemerkenswerten Fall vor: „Es handelt sich um den Fall T. in Mehringen... Die Wohnung von Herrn T.‚ die bis 1945 von einer Familie bewohnt war, wurde leer und einem gewissen B. zugewiesen... T. ist Junggeselle, sein Bruder ist im Krieg gestorben. Er hatte vorgesehen (das meint, wie aus dem weiteren Text der Verhandlung hervorgeht: er hatte seinem Bruder gegenüber das Gelöbnis abgelegt), für seine Schwägerin, die einen Sohn hatte, zu sorgen... Als die Wohnung leer wurde, übernahm T. es, diese beiden in seine Wohnung zu nehmen. Allerdings machte er den Fehler, die Zustimmung des Wohnungsamtes nicht einzuholen. Nun wurde die Wohnung dem B. zugewiesen. Ich verstehe aber nicht, daß B., der seit zwei Jahren gut untergebracht war, nun dort weg sollte. Nun muß B. umziehen, obwohl T. Einspruch eingelegt hat. Ohne eine Entscheidung abzuwarten, mußte B. in die Wohnung hinein, und zwar so, daß die beiden anderen Personen hinausgesetzt werden sollten. Herr B., der zwei Söhne hat, die studieren, bekommt dann für eine Familie, die aus drei Personen besteht, fünf Zimmer zugewiesen. Ich kann dies nicht verstehen.“ Flüchtlinge in übergroßer Zahl, die Wirtschaft liegt am Boden; das Geld ohne Wert — da kann man sich das Ausmaß der Versorgungsprobleme vorstellen. Da die Landwirtschaft weiterarbeiten konnte, war zumindest die Ernährung in Emsbüren sichergestellt. Wenngleich es auch dort Sorgen gab, nämlich die Kartoffelkäfer-Plage. Wir lassen wieder die Schulchronik sprechen. 30. Mai 1945: „Auf den Kartoffelfeldern sind die ersten Kartoffelkäfer gefunden. Eine verstärkte Suchaktion wird angeordnet. An zwei Nachmittagen der Woche suchen die Schulkinder unter Aufsicht der beiden Lehrpersonen. Befallene Kartoffelfelder werden gespritzt. Das intensive Absuchen und Spritzen hat größere Schäden verhindert“. 1946: „Der Kartoffelkäfer tritt in diesem Sommer stark auf. Am 8. Juli werden auf den Kartoffelfeldern Emsbüren-Berge gefunden: 5988 Larven und 69 Käfer."

In den Städten war die Versorgungslage weit schwieriger, so daß die Menschen von dort zum Hamstern aufs Land fuhren. Auf dem Weg über angeordnete Lieferungen ließen sich die Versorgungsengpässe bei weitem nicht beseitigen. Notiz aus 1947: „Auf Anordnung müssen sofort Schlachtschweine abgeliefert werden: Dorf Emsbüren 28 Zentner, Bauernschaft Berge 136 Zentner. Im Durchschnitt pro Stück 1 Zentner Lebendgewicht.“

Ganz und gar schwierig war die Versorgung mit Brennmaterial — auch in Emsbüren, und vor allem für die Neubürger. Die Anordnungen der Kreisverwaltung waren rigoros: Zum einen wurden die Leute wie möglich selbst zu versorgen; sie mußten nach Bernte/Elbergen/Klausheide ins Moor hinaus, um Torf zu stechen. Des weiteren waren Gemeinden und Städte verpflichtet, sich gegenseitig zu helfen. Bürgermeister van Lengerich berichtet: „Die Brennmaterial-Versorgung machte große Schwierigkeiten, da für den zivilen Sektor keinerlei Kohlen zur Verfügung standen. An Brennholz erhielt die Gemeinde im vergangenen Jahr (1945) rund 60 Raummeter, die Von der Gemeinde Mehringen geliefert wurden. Für diesen Winter (1946) stehen 190 Raummeter zur Verfügung. Diese müssen zu 70 Raummetern von der Gemeinde Bernte (Imming und Schnelling) und zu 120 Raummetern von der Gemeinde Leschede aufgebracht werden."
 

Bürgermeister Heinrich van Lengerich (1945-1946)


Bürgermeister Hubert Oldiges (1946-1952)
Der Winter 1947 war so hart wie lange nicht mehr. Von Anfang Januar bis in den März hinein blieb das Thermometer beinahe ununterbrochen bei minus 15 Grad. Die Fuhrwerke konnten über das Eis der Ems fahren. Am 18. März wurde noch das Eis auf den Straßen mit Äxten zerschlagen. Es war für die Menschen ein äußerst kalter Winter, denn die wichtigste  Energiequelle, die Kohlezuteilung, war äußerst knapp bemessen und zudem nur mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand zu bekommen.

Alle Haushalte mußten sich bei ihren Kohlenhändlern mit der Anzahl der Angehörigen registrieren lassen; diese mußten die präzisen Listen an die Kreisverwaltung geben, die ihrerseits die zugeteilten Mengen von der „Coal Distribution", der Kohlen—Verteilstelle in Bremen beantragte. Hinzu kamen die Mengen für die Wirtschaftsbetriebe. In Emsbüren bekamen zum Beispiel 1946: Maschinenfabrik Bernard van Lengerich 10 Tonnen Steinkohle und acht Tonnen Koks, Kuipers 17 Tonnen Steinkohle, die Molkerei Leschede 28 Tonnen Steinkohle, Mühle Rothkötter 22 Tonnen Steinkohle. (1945 — 1946)

Welche Kohlenqualität dann geliefert wurde — darauf hatte niemand mehr Einfluß. Am 2. 3. 1948 beschwert sich Kohlenhändler Breloh bei der Coal Distribution: „Die gelieferten Förderkohlen sind derart schlecht, so daß ich sie für Hausbrandzwecke nicht ausgeben kann. Ich möchte bitten, mir hierfür eine Ersatzladung von Stück- oder Nußkohlen zu liefern... Ich kann nicht verstehen, daß man für Hausbrandzwecke derart schlechte Kohle liefert, wogegen man für industrielle Zwecke gute Kohle verwendet." Und dennoch: Langsam, aber stetig normalisierte sich das Leben. Am  13. Oktober 1946 fanden die ersten Kommunalwahlen statt — allerdings noch unter der scharfen Obhut der englischen Besatzungsmacht. Alle Kandidaten wurden auf ihre NaziVergangenheit überprüft. Wer der NSDAP aktiv gedient hatte, konnte nicht gewählt werden. Und dann behielt sich die Militärverwaltung zusätzlich vor, die gewählten Kandidaten von sich aus zu berufen. In zehn Gemeinden des Kreises Lingen führte die Wahl zu erheblichen Komplikationen, weil die Räte darauf bestanden, Männer als Bürgermeister zu berufen, welche die Militärverwaltung wegen ihrer Nazi-Belastung ablehnte. In Emsbüren gab es derartige Probleme mit der Berufung des Kaufmanns Hubert Oldiges zum Bürgermeister freilich nicht. Aber auch hier gab es Mitbürger, welche die Überprüfung durch einen der Entnazifizierungs-Ausschüsse nicht bestanden und denen das aktive Wahlrecht, die Bekleidung öffentlicher Ämter sowie die Ausführung bestimmter Berufe (zum Beispiel: Lehrer, Journalist, Leitungsfunktion) verboten wurde.

Den großen Durchbruch — weg von der Verwaltung des Mangels hin zum eigenständigen Wirtschaften, hin zur Selbständigkeit — brachte der 21. Juni 1948, der Tag der Währungsreform. Jeder Einwohner erhielt an diesem Tag vierzig neue D-Mark im Tausch gegen 60 wertlose Reichsmark — und mit einem Male konnte man wieder kaufen, was in den Jahren zuvor nur gegen Speck und Zigaretten zu bekommen war. Die Umstellung der Sparguthaben und der Tausch des alten in das neue Geld war ein ziemlich komplizierter Vorgang, der am Ende dazu führte, daß aus hundert Reichsmark 6,50 D-Mark wurden. So dramatisch hatte das Hitler-Reich das Vermögen der Menschen entwertet, um den Krieg zu finanzieren. Für den Eintausch des sogenannten „Kopfgeldes“ wurden bei der Spar- und Darlehnskasse Emsbüren 1,114 Millionen Reichsmark eingezogen; die Gewerbebetriebe tauschten noch einmal 53.000 Reichsmark — insgesamt kam eine Menge an Reichsmarknoten zusammen, die mit dem dreirädrigen Lastwagen des Eierhändlers Schulte aus Leschede in mehreren Koffern zur Filiale der Landeszentralbank in Lingen gebracht werden mußte.

Noch Vieles wäre zu berichten:
  • Von den demolierten Verkehrswegen und zerstörten Brücken. Jahrelang kämpften die Kreistagsabgeordneten des Emsbürener Raumes hartnäckig fürden Neubau der zerstörten Emsbrücke in Leschede/Helschen. Vorn Hochwasser, das die Anwohner der Eins am 9./10. Februar 1946 überraschte. Binnen weniger Stunden mußten die Familien Keuz und Meyer inLeschede vor der Flut aus ihren Häusern fliehen. Die Kreisstraße Helschen-Listrup war 30 Zentimeter überflutet. Mit Booten konnte man bis auf den Lescheder Esch fahren.
  • Vom Wiederbeginn des geselligen Lebens: Am 22. und 24. September 1946 fand in Emsbüren wieder die erste Kirmes statt. Im November begann der Kirchenchor wieder mit den Übungsabenden im Pfarrsaal. Im Dezember nahm der katholische Gesellenverein wieder die Tradition des Theaterspielens auf. Es wurde „Retter Till" gegeben.
  • Was insgesamt zurückbleibt beim Betrachten dieser in vieler Hinsicht abenteuerlichen Zeit, ist ein Staunen über die Energie, mit der nach der großen Katastrophe des Krieges und trotz der zahllosen Hindernisse der Neubeginn wie selbstverständlich gewagt wurde — im Privaten, im Geschäftlichen wie auch in den öffentlichen Belangen. 30 Ehen wurden im Jahr 1947 in der Emsbürener Andreaskirche geschlossen. Die ersten Kredite, welche die Spar— und Darlehnskasse nach der Währungsreforrn vergab — die ersten Kredite überhaupt nach langer Zeit — dienten zukunftsgerichtet der Verbesserung der Landwirtschaft, der Finanzierung von Hausbauten und der Geschäftserweiterung. Und aus den von den Briten eingesetzten Gemeinderäten wurden tatkräftige Selbstverwaltungsorgane. Das war der optimistische Boden, auf dem bald danach das Wirtschaftswunder zu wachsen begann — auch in Emsbüren.


Ein Lehrstück für die heutige Zeit.


Quellen
  • Emsländisches Kreisarchiv, Meppen: Sitzungsprotokolle des Kreistags Lingen 1945 bis 1950. Rep. 455
  • Chronik der Volksschule Emsbüren 1941-1947
  • Stadtarchiv Lingen: Neue Volksblätter 1944 bis 1946
  • Gerhard Hölscher, Erlebnisse bei und nach Kriegsende 1945/50. Persönliche Aufzeichnungen,1989

Literatur
  • Herbert Michaelis et al., Der 2. Weltkrieg. Bilder, Daten, Dokumente. Bertelsmann-LeXikon-Verlag, Gütersloh 1976
  • Volksbank Emsbüren, 100 Jahre Volksbank Emsbüren, Emsbüren 1984
  • Landkreis Ernsland (Hrsg.), Wege aus dem Chaos. Das Emsland und Niedersachsen 1945-1949. Begleitbuch zur Ausstellung. 2. Auflage. Meppen 1988
  • Wilhelm van Lengerich, Unser liebes Emsbüren — Erinnerungen an vergangene Zeiten —Lingen (Ems] o. J.

Zum Bürgermeister Heinrich van Lengerich und seines Stellvertreters gibt es einen Tätgkeitsbericht
vom 7. April 1945 bis 23. September 1946

  


 


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